1  Wahrscheinlichkeitsmaße und Mengensysteme

Das stochastische Grundgerüst in einem Grundraum \(E\) basiert auf Mengen bzw. Ereignissen in einem Wahrscheinlichkeitsraum, der als ein Tripel \((\Omega, \mathcal{F}, \mathbb{P})\) definiert ist, das die Menge von Elementarereignissen bzw. die Grundmenge \(\Omega \subset E\) mit einer \(\sigma\)-Algebra \(\mathcal{F}\) und einem Wahrscheinlichkeitsmaß \(\mathbb{P}\) kombiniert. Dabei sind die zwei hier noch unbekannten Begriffe definiert durch

Definition 1.1 (\(\sigma\)-Algebra) Ein Mengensystem \(\mathcal{F} \subset \mathcal{P}(\Omega)\) heißt \(\sigma\)-Algebra, wenn alle drei der folgenden Bedingungen erfüllt sind:

  1. Es gilt \(\emptyset \in \mathcal{F}\).
  2. Falls \(A \in \mathcal{F}\), so gilt auch \(A^c \in \mathcal{F}\).
  3. Falls \(A_1, A_2, \ldots \in \mathcal{F}\) so gilt auch \(\cup_{n \in \mathbb{N}} A_n \in \mathcal{F}\).

Definition 1.2 (Wahrscheinlichkeitsmaß) Sei \(\mathcal{F}\) eine \(\sigma\)-Algebra auf \(\Omega\). Eine Mengenfunktion \(\mathbb{P}: \mathcal{F} \rightarrow \mathbb{R}\) heißt Wahrscheinlichkeitsmaß auf \((\Omega, \mathcal{F})\), wenn

  1. \(\mathbb{P}(A) \in [0, 1]\) für alle \(A \in \mathcal{F}\),
  2. \(\mathbb{P}(\Omega) = 1\) und
  3. Falls \(A_1, A_2, \ldots \in \mathcal{F}\) paarweise disjunkt sind, so gilt \[\begin{align*} \mathbb{P} \bigg( \bigcup_{n = 1}^{\infty} A_n \bigg) = \sum_{n = 1}^{\infty} \mathbb{P}(A_n). \end{align*}\]

Die \(\sigma\)-Algebra dient dabei als Sammelsurium von Mengen, denen wir eine Wahrscheinlichkeit zuordnen können und die wir daher als messbar bezeichnen. Der zentrale Punkt, warum wir das Konstrukt der \(\sigma\)-Algebra brauchen und uns bei dem zugrundeliegenden Mengensystem nicht mit der Potenzmenge \(\mathcal{P}(\Omega)\) begnügen können, ist der Satz von Vitali. Grob formuliert besagt dieser, dass es Mengen gibt, die nicht messbar sind, d.h. diesen Mengen kann man kein sinnvolles Maß/Volumen zuordnen.

Stattdessen beschränkt man sich auf einige wenige Axiome, die messbare Mengen erfüllen sollten und landet damit bei der Definition der \(\sigma\)-Algebra, deren Bedingungen sich aus stochastischer Perspektive übersetzen lassen als

  1. Einem unmöglichen Ereignis kann man eine Wahrscheinlichkeit zuordnen.
  2. Falls man einem Ereignis eine Wahrscheinlichkeit zuordnen kann, so kann man auch dem Gegenereignis eine Wahrscheinlichkeit zuordnen.
  3. Lassen sich einer abzählbaren Anzahl von Ereignissen jeweils eine Wahrscheinlichkeit zuordnen, so lässt sich auch dem Ereignis, dass irgendeines dieser Ereignisse eintritt, eine Wahrscheinlichkeit zuordnen.

Bei den bisherigen Überlegungen haben wir lediglich die Tatsache untersucht, ob man eine Wahrscheinlichkeit zuordnen kann und haben auf diese Weise die \(\sigma\)-Algebra beleuchtet. Jedoch kann man mit der \(\sigma\)-Algebra alleine keine sinnvolle Aussage über die Höhe der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses treffen.

Dafür benötigen wir eine Funktion, die genau diese Aufgabe erledigt und auch hier gehen wir wieder axiomatisch vor, damit die entsprechende Funktion möglichst intuitive Eigenschaften besitzt. Gerade diese Eigenschaften finden sich in der Definition des Wahrscheinlichkeitsmaßes und lassen sich wieder aus stochastischer Perspektive übersetzen als

  1. Jede Wahrscheinlichkeit liegt zwischen \(0\) und \(1\).

  2. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendetwas passiert ist 1.

  3. Falls man beliebig viele Ereignisse betrachtet, die nicht gleichzeitig eintreten können, so ergibt sich die Wahrscheinlichkeit für das Ereignis, dass eins dieser Ereignisse eintritt, als die Summe der Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ereignisse.

Betrachten wir nun zwei elementare Wahrscheinlichkeitsräume.

Beispiel 1.1 Sei \(\Omega \subset \mathbb{R}\) und \(A\) eine nichtleere Teilmenge von \(\Omega\). Dann ist \((\Omega, \{ \emptyset, \Omega, A, A^c \}, \mathbb{P})\) mit \[\begin{align*} \mathbb{P}(B) = \begin{cases} 0 &, B = \emptyset \\ 1 &, B = \Omega \\ p&, B = A \\ 1 - p &,B = A^c \end{cases} \end{align*}\]

ein Wahrscheinlichkeitsraum, falls \(p \in [0,1]\).

Beispiel 1.2 (Borelsche \(\sigma\)-Algebra) Es sei \(\mathcal{B}([0,1])\) die Borel-\(\sigma\)-Algebra auf \([0,1]\). Grob (und sehr vereinfacht) gesagt beinhaltet die Borel-\(\sigma\)-Algebra fast alle Mengen, die irgendwie von Interesse sein könnten,. In diesem Fall beschränken wir uns dabei auf Teilmengen aus dem Intervall \([0, 1]\). Zeitgleich sind diese Mengen so “gutartig”, dass man ihnen einen Volumen bzgl. des Lebegue-Maßes \(\lambda\) zuordnen kann.

Das Lebesgue-Maß ist hierbei ein elementares Maß, das einem Intervall dessen Länge als Maß zuordnet, d.h. \(\lambda([a, b]) = b - a\) für alle \(a < b\). Es gilt nun, dass \(( [0,1],~\mathcal{B}([0,1]),~\lambda)\) ein Wahrscheinlichkeitsraum ist.